Prof. Dr. Walter Schmidt (72) ist Historiker und Mitglied der Leibniz-Sozietät seit 1993. Er leitete 1964-1984 einen Lehrstuhl an der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und 1984-1990 das Zentralinstitut für Geschichte an der Akademie der Wissenschaften der DDR, deren Ordentliches Mitglied er seit 1985 war. Mehrere Bücher und Sammelwerke zur Geschichte des 19. Jh. - insbesondere zur Revolutionsgeschichte - hat er verfasst bzw. herausgegeben.
Linke Schwierigkeiten mit der Nation ziehen sich wie ein roter Faden durch die deutsche Geschichte. In der deutschen Arbeiterbewegung gab es darüber immer wieder heftige Diskussionen, zu Anfang des neuen Jahrzehnts auch in der PDS, als deren damalige Vorsitzende Gabi Zimmer sich outete, Deutschland zu lieben, und dies verband mit der Forderung, Nation und Vaterland nicht den Rechten zu überlassen, sondern ein eigenes Konzept der Politik zu entwickeln, in dem die Haltung zur Nation nicht ausgespart und ein positives Verhältnis zum Nationalen fixiert wird.
Es gab zahlreiche Stellungnahmen, die das Anliegen von Gabi Zimmer unterstützten und es zu begründen suchten. Darunter war nicht zuletzt eine Meinungsäußerung von Ernst Engelberg,(1) einem Nestor der DDR-Geschichtswissenschaft, der sich nie anfreundete mit der Zwei-Nationen-These der SED, sondern sie - wie andere auch - ablehnte und dessen weithin bekannte Bismarck-Biographie nicht zuletzt geprägt war von der Sorge um die deutsche Nation.(2) Nicht minder zahlreich aber waren auch die teilweise bissigen Kritiken im Geiste eines teilweise extremen nationalen Nihilismus.
Ich zähle mich zu denen, die dafür plädieren, die nationale Frage ernst zu nehmen, eine eigene linke Position zur Geltung zu bringen, auch wenn diese nicht dominant werden kann in einem kapitalistisch-bürgerlichen Deutschland. Ich plädiere für eine positiv-kritische Haltung zur Nation, die sich mit dem rechten Nationalismus entschieden auseinandersetzt und dabei auch die negativen Züge der deutschen Nationalgeschichte, die Verbrechen der Deutschen namentlich im 20., aber auch im 19. Jahrhundert benennt, aber zugleich die Verantwortung für eine Neugestaltung der sozialen Verhältnisse in der Nation auf ihre Fahnen schreibt.
Ein Blick in die Geschichte
In der frühen deutschen Arbeiterbewegung, so etwa bei Wilhelm Weitling, galt national zunächst schlankweg als bürgerlich und war mit dem Ziel der Beseitigung der kapitalistischen Ausbeutung nicht zu vereinbaren. Erst allmählich reifte die Einsicht, dass Nationales auch von den Arbeitern im Sinne einer sozialen Umgestaltung der Nation ernst genommen werden muss. Marx' und Engels' Aussagen im Kommunistischen Manifest dazu sind widersprüchlich: Einerseits finden wir die auf internationalen Zusammenschluss zielende These, die Arbeiter haben kein Vaterland; andererseits aber die Einsicht und die Forderung, die Arbeiter müssen sich zunächst als Nation konstituieren, das will sagen: sie sollen die Nation selbst erobern, um in diesem konkreten nationalen Rahmen die Bourgeoisie zu stürzen, die eigene Herrschaft zu errichten und so ihren Beitrag zur Durchsetzung sozialistischen Fortschritts im Weltmaßstab zu leisten.
Zugleich anerkannten Marx und Engels die Berechtigung nationaler Unabhängigkeitsbestrebungen im Prozess der bürgerlichen Umwälzung (so in Polen, Ungarn, Italien), freilich unter der Bedingung, dass diese Bestrebungen der Verwirklichung entschieden demokratischer bürgerlicher Verhältnisse dienen und auch die Entfaltung der proletarischen Emanzipation fördern, also eine eindeutig antifeudale und perspektivisch auch antikapitalistische Tendenz haben. Dienten nationale Bewegungen in ihrer Sicht der feudalen Reaktion, der Aufrechterhaltung bestehender Machtverhältnisse, verwarfen sie diese, bekämpften sie erbittert wie die der Tschechen und Südslawen in der Revolution von 1848/49, ja negierten das Recht auf nationale Selbstbestimmung und meinten gar, der Untergang solcher Nationalitäten sei historisch gerechtfertigt. Dies verband sich vor allem bei Engels mit einem unerschütterlichen Glauben an die elementare Assimilationskraft der modernen wirtschaftlichen Entwicklung, die kleine Völker in der Perspektive vollständig aufsaugen würde. Nationales ist bei Marx und Engels strikt in ein politisches Konzept der zunächst bürgerlich-demokratischen und dann sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft eingeordnet. Es hat für sie durchaus einen eigenständigen Wert, aber ist in jeder Situation dem Sozialen untergeordnet. Dabei wird jedoch auch ein Zug der Missachtung von national motivierten Massenbestrebungen, namentlich der Bauernschaft, später auch des Proletariats, offenbar, der durchaus demokratischer Kriterien entbehrt. Hier liegen wohl auch gewisse Ansatzpunkte für einen linken nationalen Nihilismus. Beide orientierten sich an sogenannten "lebensfähigen" großen Nationen, die ihnen vor allem historischen Fortschritt zu gewährleisten schienen (Frankreich, England, Italien, Spanien, Deutschland, Polen, Russland, Ungarn, die USA).
Was Deutschland betrifft, so haben sich Marx wie Engels, und ihnen folgend die sozialistische deutsche Arbeiterbewegung, zwischen 1848 und 1871, gemeinsam mit den bürgerlichen Demokraten für die Herstellung eines einheitlichen demokratischen Nationalstaats engagiert. Nationalstaaten galten ihnen als der geeignetste Rahmen zur Entfaltung der proletarischen Emanzipationskräfte und für die Auseinandersetzung mit der Bourgeoisie, aber auch als notwendige Voraussetzung für internationalistische Zusammenschlüsse der Arbeiter.
Es besteht unter nicht wenigen Linken die Auffassung, die Sozialisten hätten seit 1871 ein "lang andauerndes Un-Verhältnis zur Nation" gehabt, weil das Bismarckreich ihr "Feindbild" gewesen sei.(3) Das klingt schön, ist aber falsch. Die Haltung der revolutionären Arbeiterbewegung war vielmehr durch zweierlei bestimmt: erstens Akzeptanz des in Gestalt des Deutschen Reiches geschaffenen Nationalstaats als Kampfboden der Arbeiter um ihre Befreiung und zweitens Überwindung der undemokratischen Gestalt, die Bismarcks Revolution von oben geschuldet war, auf dem Wege einer durchgreifenden Demokratisierung des Reiches. Auch Bebel und Liebknecht haben sehr wohl unterschieden zwischen dem Bismarckreich, das sie bekämpften, und der darin staatlich organisierten deutschen Nation, zu der sie sich bekannten und die sie demokratisch und sozialistisch umgestalten wollten. Sie ließen sich nicht als "vaterlandslose Gesellen" diffamieren. So Bebel an die Konservativen: "Wir sind Deutsche so gut wie Sie, und hängen an diesem Deutschland mit ebensoviel Liebe wie Sie."(4)
Ebenso eindeutig war ihr Bekenntnis zu Patriotismus. Bebel 1880 im Sozialdemokrat:
"Wir bekämpfen den Patriotismus nicht an und für sich, sondern nur insofern, als dieser ein Hetzmittel gegen fremde Nationalitäten dient, als er dazu benutzt wird, den Chauvinismus, den Nationalitätenhass und die Nationaleitelkeit großzuziehen, um mit Hilfe dieser Eigenschaften beliebige Kriege entzünden zu können. ... Der Patriotismus, der in der Liebe zum Land besteht, in dem man geboren, in dessen Sitte und Sprache man erzogen ist, das mit einem Wort den Boden bildet, in dem unser Sein wurzelt und sich entfaltet, dieser Patriotismus wird von der Sozialdemokratie nicht nur nicht verworfen, er wird dadurch tagtäglich von ihr in höchstem Maße dadurch geübt, dass sie das System, das auf diesem Boden herrscht, mit aller Kraft bekämpft und jedem, der diesen Boden verlassen will, zuruft: 'Hic Rhodus, Hic salta - bleibe hier und kämpfe mit, hier ist der Boden, auf dem wir die neue Zeit, die neue Welt zu erkämpfen und zu schaffen haben'."(5)
Allerdings hat sich dieser Standpunkt in der Arbeiterbewegung nie vollständig durchsetzen können; und vor allem gelang es nicht, das Demokratisierungskonzept im Nationalstaat wirklich umzusetzen.
In der KPD dominierte trotz richtiger Standpunkte bei wichtigen Führungskräften wie Clara Zetkin, Hermann Duncker, Gertrud Alexander bis in die 30er Jahre eher nationaler Nihilismus. Das war verknüpft mit der gleichzeitigen Vernachlässigung, wenn nicht Missachtung der durch die Novemberrevolution erkämpften bürgerlichen Demokratie in der Weimarer Republik. National galt vornehmlich als bürgerlich-kapitalistisch. Ich erinnere mich des Ausspruchs eines alten Genossen zu Schwarz-Rot-Gold, als diese Farben 1949 die Fahne der DDR wurde: Sowas haben wir in Weimarer Zeiten Schwarz-Rot-Senf genannt. Daran ändert auch der gescheiterte Versuch einer radikalen Wende 1930 mit dem Programm zur nationalen und sozialen Befreiung nichts, mit dem den Nazis der nationale Schneid abgekauft werden sollte. Das Programm kam zu spät, und seine Wirkung verpuffte auch deshalb, weil damit eine unrealistische, direkt sozialistische Zielsetzung verbunden war.
Nicht zufällig war die Korrektur des VII. Weltkongresses und der Brüsseler Konferenz im Hinblick auf die Stellung zur bürgerlichen Demokratie zugleich verbunden mit einer Hinwendung zu nationalen Traditionen und Werten. (In die Zeit danach fällt übrigens die Äußerung Thälmanns, er sei ein Sohn der deutschen Nation, einer "harten, stolzen, ritterlichen Nation".)
Ich streife nur die komplizierte und wechselvolle Politik der SED in der nationalen Frage, die wir alle - die Älteren zumindest direkt miterlebt haben: Zunächst das Konzept der Wahrung und Wiederherstellung der durch Spaltung verloren gegangenen Einheit der Nation durch antifaschistisch-demokratische und sozialistische Neugestaltung des gesamten verbliebenen nationalen Territoriums nach dem Beispiel der DDR, das sogenannte Sozialistische Wiedervereinigungsgebot, das von 1945 bis zum Ende der 60er Jahre - mit ihren verschiedenen Phasen, bis 1955, von 1955 bis Anfang der 60er Jahre und in den 60er Jahren - reichte; und dann ab 1971 die Zwei-Nationen-Konzeption nach der Anerkennung der Zwei-Staaten-Realität durch die Bundesrepublik. Und schließlich Hans Modrows 1990 verkündeter Ruf der PDS nach "Deutschland, einig Vaterland", der aber ein schon hoffnungsloser Versuch war, den offenkundigen und von Moskau bereits akzeptierten westdeutschen Bestrebungen, die DDR schlankweg zu vereinnahmen und zu rekapitalisieren, mit dem wieder aufgenommenen Konföderationskonzept der späten fünfziger Jahre zu begegnen. Gleichwohl zeigt diese Periode der sogenannten deutschen Zweistaatlichkeit. dass das Verhältnis zur Nation eine zentrale Frage in der Politik der deutschen Sozialisten und Kommunisten war und dass - wie auch immer - um ein positives Verhältnis zur Nation gerungen wurde.
Woher die Schwierigkeiten rühren
Zu fragen ist: Warum die deutsche Linke so große Schwierigkeiten mit der Nation hatte und offenbar noch hat; wie es kommt, dass immer wieder starke national-nihilistische Stimmungen auftreten, mehr zumindest als bei Linken in anderen Nationen, und dass die inneren Beziehungen der Linken zum Nationalen so schwach sind. Das lässt sich wohl nur aus der deutschen Geschichte erklären und wird offenkundig, wenn man sie mit der Geschichte der Linken anderer Länder vergleicht.
Zwei Problemkomplexe halte ich für wesentlich.
Erstens sind da die tiefen Brüche in der deutschen Geschichte. Sicher hat jede Nation ihre historischen Kontinuitätsprobleme, und keine Nation ist frei von Tiefpunkten, Niederlagen, ja auch Verbrechen. Aber die deutsche Nationalentwicklung weist in dieser Beziehung besonders scharfe und verhängnisvolle Brüche und negative Züge auf:
1871 wurde die Nation durch eine Revolution von oben unter konservativ-preußischer Hegemonie (und nicht von liberalen oder demokratischen Kräften) geeinigt und das Nationale dadurch von rechts besetzt. Die deutsche Reichsgründung markiert das endgültige Scheitern der demokratisch-republikanischen nationalen Einigungsbestrebungen und -bewegungen, die in der Revolution von 1848/49 ihren Höhepunkt erlebt hatten. Eine Symbiose von Demokratie und Nation kam so nicht zustande, mehr noch: die demokratischen Zukunftsträger wurden offiziell geradezu aus der Nation ausgegrenzt. Und es gelang bis ins 20. Jahrhundert hinein nicht, demokratische Korrekturen an der Entscheidung von 1871 zu erzwingen.
1914 wurde Deutschland von einer nationalistischen Welle ohnegleichen überspült; und die Linke war bis auf eine verschwindende Minorität darin einbezogen. Das rechte nationalistische Konzept einer brutalen Eroberungspolitik gegenüber den deutschen Nachbarn wurde von der Sozialdemokratie mit dem Argument einer notwendigen Vaterlandsverteidigung gegen das zaristische Russland akzeptiert und durch Gewährung der Kriegskredite aktiv unterstützt. Das hatte fraglos enorme Wirkungen auf spätere wirklich revolutionäre linke Sichtweisen zu Nation und Vaterland.
1933-45 herrschten in Deutschland extremer expansionistischer Nationalismus, Judenverfolgung, Krieg, Völkermord und Holocaust, alles begangen im Namen des deutschen Vaterlandes, dies war wohl der tiefste Bruch. Und im Unterschied zu anderen Ländern, in denen die Résistance gegen den Faschismus Massencharakter annahm und die sozialistische und kommunistische Arbeiterbewegung sich in dieser zumeist auch stark national motivierten Massenbewegung bewegen konnte, war in Deutschland der antifaschistische, durchaus auch national begründete Widerstand immer nur von einer kleinen Minorität getragen, erreichte zu keinem Zeitpunkt nationale Dimensionen. Es gelang den linken Kräften in Deutschland bis 1945 nicht, den Einfluss des faschistischen Nationalismus zu brechen. Das verlangte nach 1945 eine rückhaltlose Auseinandersetzung mit der "deutschen Misere", auch in der zurückliegenden deutschen Geschichte.
1949: die internationale Systemkonfrontation zerriss die deutsche Nation in zwei Staaten gegensätzlicher Gesellschaftsordnung.
1990 erfolgt eine Vereinigung beider Staaten auf konservativ-kolonisierende Manier.
Ein zweiter damit zusammenhängender Problemkomplex ist vielleicht noch wichtiger für das schwierige linke Nationsverständnis in Deutschland.
Es gelang der deutschen Linken zu keinem Zeitpunkt, Einfluss auf die Gestaltung der Nation zu nehmen. Die demokratischen Elemente hatten in Deutschland - wenn man weiter zurückgeht - seit Reformation und Bauernkrieg nie durchgreifenden Erfolg. Das unterscheidet Deutschland von Ländern wie England, Frankreich, Italien, selbst den USA, wo die demokratischen Kräfte des Volkes, "von unten", auf dem Wege zu einer bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zwar nicht generell dominant wurden, aber zumindest zeitweilig nachdrücklichen Einfluss auf die Formierung der Nation ausüben konnten. So etwa die linken Elemente in der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts und die Jakobiner in der Großen Französischen Revolution von 1789-1795.
1848/49 scheiterte der Versuch, die Nation von unten, durch einen zumindest vorläufigen Sieg der Demokraten zu einigen.
1871 wurden Demokraten und Sozialisten - wie schon genannt - offiziell aus der Nation ausgeschaltet, während die Liberalen sich ans Junkertum total anpassten. Demokratische Einflussnahme blieb marginal.
1914 erfolgte sogar die Unterordnung der Masse der Linken unter den imperialistischen Nationalismus.
1918/19 brachte die Novemberrevolution zwar eine bürgerliche Republik und wichtige demokratische Rechte, aber es erfolgte keine dauerhafte Fundamentierung der bürgerlichen Demokratie. Von einer demokratischen Linksbesetzung der Nation konnte keine Rede sein. Gleichwohl sollten die partiellen demokratischen Einwirkungen auf die Nation, die von der nun staatstragenden Sozialdemokratie am stärksten wohl im kommunalen Bereich ausgingen, nicht unbeachtet bleiben. Die Rechte vermochte hingegen ihr aggressiv-nationalistisches Konzept unter der Losung des Anti-Versailles zur Geltung zu bringen und gewann damit entscheidenden Masseneinfluss.
1933 Niederlage aller linken, demokratischen Elemente und Sieg eines extremen Nationalismus.
Und als nach 1945 erstmals ein Bruch mit der reaktionären Linie gelang und linke Kräfte gesellschaftsgestaltend wirksam werden konnten und wurden, war dies versehen mit mancherlei Stigmata:
• Nur auf einem Teil des verbliebenen nationalen Territoriums, der späteren DDR, erfolgten ein positiver Bruch mit tiefen antikapitalistischen gesellschaftlichen Neugestaltungen, dieser Fortschritt war aber verbunden mit der Spaltung der Nation, was belastende Rückwirkungen hatte.
• Die revolutionären Umwälzungen erfolgten nicht nur aus eigener Kraft (wie etwa in Kuba), sondern gestützt auf die sowjetische Führungsmacht, ohne die eine DDR-Eigenentwicklung letztlich nicht zu begreifen ist.
• Die Neugestaltungen waren verknüpft mit enormen Defiziten, vor allem im Hinblick auf die demokratische Legitimation.
• Das Ganze endete mit einer Niederlage, es blieb - historisch gesehen - wiederum ein Misserfolg, was übrigens die Linke in ganz Deutschland schwächte.
Denn der Versuch, den Sozialismus demokratisch zu reformieren, scheiterte; die anfänglichen demokratisch-sozialistischen Bestrebungen von 1989 für einen demokratischen Ausbau der neuen Gesellschaft wurden abgefangen und von konservativen "äußeren", aber sich national ausgebenden Kräften in ihrem Sinne kanalisiert zu einer Restauration bürgerlich-kapitalistischer Verhältnisse.
Wenn es einen "deutschen Sonderweg" gab, dann war es in meinem Verständnis der fortlaufende Misserfolg der linken, demokratischen und sozialistischen Kräfte in der deutschen Geschichte seit 1517.
Dennoch hat der zeitweilige und partielle Erfolg einer linken antikapitalistischen Alternative bei den Linken aus der DDR ein anderes Verständnis der Nation nach sich gezogen. Die Tatsache, dass Linke über mehrere Jahrzehnte Verantwortung für die ganze Gesellschaft wahrzunehmen hatten, ließ ein geändertes, positiveres Verhältnis zum Nationalen entstehen, trotz der negativen Momente, die sich aus der Spaltung ergaben. Das führte nicht zuletzt zu nicht übersehbaren Unterschieden im Nationsverständnis zwischen West- und Ostlinken. Dazu Christina Hadler vom bayrischen PDS-Vorstand: "Die Ost-Linken haben ein anderes Verhältnis zur Nation. Immerhin wurde dort, wenn auch zunächst nicht aus eigenem Willen, ein wirklicher Neuanfang gemacht. Die Deutsche Demokratische Republik entsorgte den alten Namen. Faschismus und alles, was in seinem Namen als Verbrechen geschah, wurden geächtet, und die Linken konnten sich mit einer neuen, sozialistischen, eigentlich konträr verfassten Gesellschaft auch über die 'deutsche Nation' definieren."(6)
Gleichwohl ist, wenn es um die Haltung der Linken zur Nation geht, so meine ich, wohl auch danach zu fragen, ob nicht trotz Restauration des Kapitalismus in den Westzonen und der Bundesrepublik von den nach 1945 von linken Kräften getragenen demokratischen Bestrebungen wie von der 68er Bewegung positive Wirkungen auf die Gestaltung der deutschen Nation ausgingen, die auch Elemente eines positiveres linkes Verhältnis zur Nation hervorbrachten.
Ist die Nation überholt?
Ein letzter Fragenkomplex:
Bestehen im 21. Jahrhundert noch grundsätzlich die gleichen Voraussetzungen für eine positiv-kritische Haltung zur Nation wie im 19. und 20. Jahrhundert? Oder stellen die ökonomischen Entwicklungsprozesse, das was neuerdings Globalisierung heißt, die Nation als Existenz- und Kommunikationsform von Gesellschaften und als Entwicklungsrahmen gesellschaftlicher Prozesse grundsätzlich und endgültig in Frage. Ist Nation überholt oder nicht? Die Antwort darauf ist für linke Politik nicht unwichtig. Das ist die eigentliche Perspektivproblematik. Wie also steht es um das Schicksal der Nation, werden ihre ökonomisch-sozialen Grundlagen ausgehöhlt, untergraben, werden Nationen zunehmend überholte, rückständige, hemmende, zum Absterben verurteilte Relikte oder haben sie noch eine Zukunft?
Das Ende des Nationalen ist seit 150 Jahren wiederholt prophezeit worden, auch von marxistischer Seite. Aber dies waren durchweg Fehlprognosen. Eingetreten ist das Gegenteil. Untergegangen ist noch keine einzige Nation auf dem Erdball. Nationen offenbarten sich statt dessen als außerordentlich stabile, vitale, lebensfähige Erscheinungen. Auch sind gegenwärtig Nationsbildungsprozesse - vor allem in der "Dritten Welt" - noch voll im Gange. Mir scheint es daher eher richtig, davon auszugehen, dass Nationen noch eine lange historische Perspektive haben. Es ist eigentlich in dieser Frage wie in anderen nachdrücklich zu warnen vor "verkürzenden" Vorstellungen. "Verkürzte Perspektiven" sind leider eine alte traditionelle Schwäche der Linken, nicht zuletzt der Marxisten. Der Beispiele dafür seit 1848 gibt es hinreichend.
Zur historischen Perspektive von Nationen einige abschließende Überlegungen:
1. Nationen formieren sich in der Regel durch eine Verschmelzung von ethnischen und sozialen Komponenten in einem langen historischen Prozess seit der Herausbildung des Kapitalismus mit der bürgerlichen Umwälzung der Gesellschaften. Die Gesamtheit der ethnischen Merkmale und Eigenschaften, was wir als Nationalität bezeichnet haben (Herkunft, Sprache, Sitten, Gebräuche und Lebensgewohnheiten), hat weit in vorkapitalistische Zeiten, oft bis in die Urgesellschaft zurückreichende Wurzeln und besitzt daher eine außerordentlich starke Traditionskraft. Die ethnischen Komponenten sind objektive, sicher modifizierbare, aber weithin unzerstörbare Faktoren für den Zusammenhalt von großen Menschengruppen. Einer bestimmten Nationalität anzugehören ist kein Verdienst, das ist einfach gegeben, da wird man hineingeboren und erzogen durch die unmittelbare Umwelt, in der man lebt. Und dieses Erbe, das man so mitbekommt, ist nicht einfach auszulöschen. Sicher gibt es Umformungen, Modifizierung, übrigens auch landschaftsbedingte Eigenheiten und Besonderheiten. Aber es wird nicht ausgelöscht. Das Ethnische überdauert und damit auch die Nationen.
In der DDR-Diskussion gab es aus nachvollziehbaren Gründen eine Überhöhung des Sozialen gegenüber den ethnischen Faktoren; die Wissenschaft suchte zwar seit Beginn die starke Bindekraft und Wirksamkeit des Ethnischen zur Geltung zu bringen, akzeptierte letztlich aber die Dominanz des Sozialen. Helmut Bleiber war meines Wissens der einzige, der in den 80er Jahren offen verlangte, beide Faktoren als gleichberechtigte konstitutive Elemente der Nation anzuerkennen.(7) Nun sollten wir dahinter nicht wieder zurückfallen, sondern die Lebenskraft des Ethnischen im Nationalen ernst nehmen, das den Nationen eine hohe Stabilität und auch eine historischen Perspektive verleiht. Es besteht sicher nicht die Gefahr, dass sich die Menschheit zu einem unstrukturierten und undifferenzierten Einheitskonglomerat entwickelt. Nationales lässt sich zwar überwinden, aber nur durch Assimilation, das bedeutet dann in der Regel nichts anderes als das Aufgehen in einer anderen Nationalität.
2. Die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts widersprechen der Erwartung, die Nation sei historisch ein Auslaufmodell:
• Dagegen sprechen die voll im Gange befindlichen, "nachholenden" Nationsbildungsprozesse in der "Dritten Welt", vor allem in Asien und Afrika.
• Zu beachten sind zugleich die nationalen Wiederbelebungen innerhalb der industriell entwickelten Länder des Nordens (Basken in Spanien, Schotten in England, Flamen in Belgien), die teilweise dramatische Formen annehmen.
• In Rechnung zu stellen ist auch das Aufbranden nationaler Selbständigkeitsbestrebungen mit oft extrem nationalistischer Tendenz nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Ost- und Südosteuropa. Unabhängig davon, wie man dies bewertet, ob es dem Progress nützte oder eher schadete, es fand real statt und vollzieht sich weiter. Nationales erwies sich als stärker denn soziale Faktoren, ob sozialistisch oder kapitalistisch geprägt.
All dies demonstriert auf unterschiedliche Weise Vitalität und Dynamik des Nationalen in der Gegenwart.
3. Es entsteht daraus schließlich die Frage: Wenn es sich bei Nationen um stabile zukunftsfähige Gebilde handelt, die politisch in Gestalt von Nationalstaaten fortexistieren, ob dies nicht auch politisch gesehen wichtige Widerstandszentren sein können und müssen gegen die Allmacht des globalisierenden Kapitalismus. Denn: Eine schlagkräftige übernationale oder internationale Gegenmacht gegen den expandierenden und nach 1989 ungebremst ausbeutenden Kapitalismus ist bislang nicht entstanden. Der Kapitalismus nutzt diese Schwäche wie die rechtlichen Freiräume, die ober- bzw. außerhalb der Nationalstaaten existieren, und er setzt seinerseits die Nationalstaaten massiv unter Druck. Widerstandskräfte sind, wenn überhaupt, im Grunde nur innerhalb der verschiedenen nationalen Existenzformen entwickelt. Müssen also diese Positionen verteidigt werden oder soll man sie auch noch aufgeben, zumal es noch nichts gibt, was als internationale Gegenmacht an die Stelle treten könnte? Das ist meine abschließende Frage.
Anmerkungen
(1) Ernst Engelberg, Die Nation und die Linke - historische Anmerkungen, in: Neues Deutschland, 25/26.11.2000. S. 21
(2) Darauf hat überzeugend Helmut Bleiber in seiner Rezension des ersten Bandes der Bismarck-Biographie hingewiesen: Deutsche Literatur-Zeitung, 108, 1987, H.7/8, S. 560-565.
(3) So zuletzt Gunnar Decker, Die unheilbaren Deutschen, in: Neues Deutschland, 20/21.01.2001, S. 20.
(4) Zitiert bei Ernst Engelherg. in: Neues Deutschland. 25/26.11.2000. S. 21.
(5) Der Sozialdemokrat, 18.11.1880.
(6) Neues Deutschland, 30.11.2000, S. 16
(7) Helmut Bleiber, Nationalbewusstsein und bürgerlicher Fortschritt. Zur Herausbildung von deutschem Nationalbewusstsein in der Zeit der bürgerlichen Umwälzung (1789-1871), in: Helmut Bleiber und Walter Schmidt, Demokratie, Antifaschismus und Sozialismus in der deutschen Geschichte. Berlin 1988, S. 173
Quelle: Marxistische Blätter, Heft 1-08 (Januar), 46. Jahrgang, S. 42-48 veröffentlicht bei schattenblick.de
1 Kommentar:
Ja, die Linke und die Nation. Das ist auch deshalb so schwierig, weil man als Linker im Prinzip so gut wie alles sein kann. Internationalist, Pazifist, Terrorist, Anarchist, Demokrat, Sozialdemokrat, Umweltaktivist, Autonomer, Grüner, Kommunist, Sozialist, Punk, und so weiter. Teilbereiche der Linken waren immer gegen ein "einteilen" der Menschen in willkürliches Nationensystem, andere sahen es als Chance der reginonalen Einflussnahme. Beide haben recht. Meiner Meinung nach sollte man zuerst im nationalen Rahmen die Macht ergreifen, um anschliessend die Nationen für obselet zu erklären. Ein langer Weg...
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