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Freitag, Juli 04, 2008

Domenico Losurdo: Kampf um ein Schlüsselwort


Domenico Losurdo (geb. 1941) ist Professor für Philosophie an der Universität Urbino. Er ist Präsident der Internationalen Gesellschaft für dialektisches Denken. Zusammen mit Hans Heinz Holz gibt er die philosophische Halbjahresschrift Topos heraus.
Losurdo trat Mitte der 1960er Jahre der PCI (Kommunistische Partei Italiens) bei, die sich 1991 auflöste. Später Mitglied der Rifondazione Comunisti (PRC) publiziert er heute als Parteiloser in der kommunistischen Zeitschrift l'ernesto, die innerhalb der PRC für eine Vereinigung der Kommunisten Italiens eintritt



Die Linke sollte die Idee der Nation nicht preisgeben



Es gibt ein Hobby, das bei den Intellektuellen oft großen Anklang findet: Man könnte es das Spiel der Analogien (und der Assonanzen) nennen. Eine breite Debatte hat vor drei Jahren ein Buch von Götz Aly ausgelöst, das mit Vergnügen die gewissermaßen linke Sprache hervorhob, die die Bonzen des »Dritten Reichs« benutzten: Sie forderten für Deutschland den »Sozialstaat« und sogar den »Sozialismus«. Angesichts dieser Analogie oder dieser Assonanz liefen diejenigen, die weiterhin diese Parolen ausgaben, Gefahr, wie Epigonen Hitlers auszusehen.
Das Spiel der Assonanzen
Tatsächlich hat sich die »Nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei« von Anfang an als eine »sozialistische« Partei der »Arbeiter« vorgestellt und nicht umsonst die rote Fahne geschwenkt. Wie Aly selber zugibt, galt der »Sozialstaat« oder der »Sozialismus« des »Dritten Reichs« allerdings nur für die höhere Rasse, es war der »Sozialismus des guten Blutes«. Und wenn der Naziideologe Alfred Rosenberg den »Rassestaatsgedanken« feiert, schwenkt er nicht die (vom Hakenkreuz entstellte) rote Fahne, sondern beruft sich vielmehr auf das Beispiel der Vereinigten Staaten, dieses »herrlichen Lands der Zukunft«, wo vor allem im Süden die Rassenhierarchie fest verwurzelt war und die Schwarzen immer noch eine halb-sklavische Rasse waren. Hitler hat sich seinerseits die Eroberung Osteuropas nach dem Modell der Expansion der weißen Rasse und der USA im Westen vorgestellt: dort hat die Dezimierung der eingeborenen Bevölkerung ausgedehnte Ländereien freigelegt; die weißen Proletarier hatten aufgehört, Proletarier zu sein und hatten sich in Landbesitzer verwandelt und gewissermaßen den vom »Dritten Reich« propagierten »Sozialstaat« oder den »Sozialismus des guten Blutes« vorweggenommen.

Was ist die Grundlage der Naziideologie, um die sich alles andere dreht? Ist es die Idee vom »Sozialstaat« und vom »Sozialismus« oder ist es vielmehr der »Rassestaatsgedanke« und die Forderung nach der absoluten Vorherrschaft des »guten Blutes«? Das Schöne am Spiel der Analogien und der Assonanzen ist gerade, daß es erlaubt, ein einzelnes Wort zu isolieren, um von daher das gewünschte Ergebnis zu erzielen. Aly formuliert deutlich seine Sichtweise: »In der Endphase der Weimarer Republik hatten nicht wenige der späteren NS-Aktivisten kommunistisch-sozialistische Erfahrungen gesammelt.« Klar zeige sich hier die Übereinstimmung zwischen Sozialisten und Kommunisten einerseits und Nazis andererseits!

Die »Nationalsozialistische deutsche Arbeiterpartei« bezeichnete sich auch als »national« und »deutsch« und von daher entwickelt Thomas Wagner (jW vom 17.6.2008) das Spiel auf andere Weise: Jetzt werden diejenigen, die von Na­tion reden, verdächtigt, die Sprache des »Dritten Reichs« wiederaufzunehmen. In Wahrheit wollte die Partei Hitlers nicht die der »Deutschen«, sondern die der »Arier« sein und dies bedeutete von Anfang an eine radikale Auseinanderreißung der deutschen Nation. Ausgeschlossen und verfolgt wurden die »Rheinlandbastarde« (die Kinder, die aus der Verbindung zwischen Soldaten afrikanischer Herkunft der französischen Besatzungstruppen und deutschen Frauen geboren waren), die Juden, die Zigeuner, alle diejenigen, die sich der »Rassenschande« schuldig machten, wenn sie sich mit den »niederen« Rassen einließen; schließlich die Sozialisten, die Kommunisten und alle diejenigen, die sich ebenfalls als »Rassenfremde« erwiesen, wenn sie die »Rassenschande« begünstigten oder duldeten.

»Nation« und »Rasse« sind keineswegs dasselbe: Die erste gründet auf der Idee der Gleichheit der Bürger, die zweite auf der Idee der Ungleichheit. Dessen ist sich der französische »Rassentheoretiker« Arthur de Gobineau sehr wohl bewußt: Der Autor des »Essai sur l'inégalité des races humaines« (erschienen 1853 ff.) bringt seine ganze Verachtung für das Wort »Vaterland« zum Ausdruck, das den Aufmarsch der »Menge« heilige und die »ethnische Mischung« legitimiere. Wir haben es mit einer Kategorie zu tun, die auf die französische Revolution verweist. Dies hebt Spengler im Jahre 1933 hervor: »die Gleichheit war es, die (…) den Ruf Vive la nation ertönen ließ«. Rosenberg verurteilt seinerseits »die Begeisterung für den Nationalismus an sich«: erst einmal verallgemeinert, diene die »Losung vom Selbstbestimmungsrecht der Völker« allen »minderwertigen Elementen auf diesem Erdball, für sich Freiheit zu beanspruchen«.
Antagonistische Konzepte

Aber das Spiel der Analogien und der Assonanzen verachtet die Mühe der begrifflichen Analyse und der historischen Forschung. Für Thomas Wagner steht es außer Zweifel: Wer sich nicht dazu entscheidet, die Nation als »eine kollektive Halluzination« zu begreifen, ist von einer recht beunruhigenen ideologischen Verwirrung befallen. Jetzt kann die herrschende Klasse ruhig schlafen: Ob sie nun von »Sozialismus« und von »Arbeitern« oder von »Nation« reden, können die Sozialisten und die Kommunisten jedenfalls als Gesinnungsgenossen der »Nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei« diskreditiert werden!

Es sollte jedoch darauf hingewiesen werden, daß man mit dem gerade untersuchten Verfahren jede Losung in Verruf bringen könnte. Man denke an die »Demokratie«. Wie hieß in den Vereinigten Staaten die Partei, die sich mehr als alle anderen für die Verteidigung der Sklaverei und danach für das Regime der white supremacy eingesetzt hat? Sie hieß »demokratische« Partei! Sollten wir also »Demokratie« als Synonym für Sklavensystem und Rassismus betrachten? In Wahrheit legt die Geschichte eine ganz andere Schlußfolgerung nahe. Auf die »Demokratie« haben sich als erste Robespierre und die Jakobiner berufen, die daraufhin die Sklaverei in den französischen Kolonien abgeschafft haben; wenig später haben sich auf diese Losung in den USA und vor allem in den Südstaaten diejenigen berufen, die mit »Demokratie« die Selbstregierung der Sklavenhalter und der Kolonisten meinten. Insgesamt handelte es sich um eine Klasse, die frei und »demokratisch«, ohne Einmischung seitens der Zentralgewalt, den Besitz des den Indianern geraubten Bodens und den Besitz der Sklaven genießen wollte, die dazu bestimmt waren, diesen Boden zu bestellen. Mit dem Zusammenbruch des Ancien régime war inzwischen der Konsens von unten zum einzigen wirksamen Legitimationskriterium der Macht geworden: daher entwickelte sich ein akuter ideologischer Kampf zwischen der abolitionistischen Demokratie und der, die wir als die »Demokratie des guten Blutes« oder als die Herrenvolk democracy bezeichnen könnten.

Etwas Ähnliches findet im 20. Jahrhundert hinsichtlich des »Sozialismus« statt. Nach dem Gemetzel des Ersten Weltkriegs und dem Ausbruch der Wirtschaftskrise sei der Terminus »Liberalismus« – stellt der österreichische Ökonom Ludwig von Mises 1927 bitter fest – »unvolkstümlich« geworden. Sogar die Reaktion ist also dazu gezwungen, sich auf das Terrain des Sozialismus zu begeben. So erklärt sich der Aufstieg und die Machtergreifung des Nazismus. Auf diese Weise bildet sich ein kolossaler Zusammenstoß heraus: auf der einen Seite (in Sowjetrußland) ein Sozialismus, der die Sklaven der Kolonien dazu aufruft, ihre Ketten zu sprengen; auf der anderen Seite (in Hitler-Deutschland) ein »Sozialismus des guten Blutes«, der sich auf die Wiederaufnahme und Radikalisierung der kolonialen Tradition stützen will.

Jetzt sind wir in der Lage, den ideologischen Kampf zu verstehen, der sich um die Idee der »Nation« herausgebildet hat. Diese Idee setzt sich mit der französischen Revolution durch und verweist im Inneren auf die égalité (Gleichheit), die zwischen freien Bürgern herrschen müsse, und auf internationaler Ebene auf die fraternité (Brüderlichkeit) gerade zwischen den Nationen. Es stimmt, später hat der Imperialismus versucht, die Idee der Nation auszunutzen, indem er sie in exklusivem Sinne neuinterpretierte. Aber es handelt sich um ein Vorgehen, das jenem ähnelt, dem wir schon in bezug auf »Demokratie« und »Sozialismus« begegnet sind. Mit Recht hat Dimi­troff 1935, gerade mit dem Ziel, besser den Kampf hauptsächlich gegen den Hitler-Imperialismus zu organisieren, die kommunistische Bewegung dazu aufgerufen, sich von jeder Form von »nationalem Nihilismus« freizumachen.

Der ideologische Kampf hat etwas gemeinsam mit dem militärischen Kampf. Das Heer, das sich in einer schwierigen Lage befindet, versucht, das Geheimnis der militärischen Überlegenheit des Feindes zu lüften, und das geschieht auch auf ideologischem Gebiet: So erklärt sich der Übergang bestimmter Losungen von einem Lager zum entgegengesetzten. Nur oberflächliche Beobachter können diese Ähnlichkeit der Sprache mit ideologischer Affinität verwechseln, die dagegen Ausdruck von Antagonismus ist. Alle Schlüsselworte des politischen Diskurses werden zum Schlachtfeld gegensätzlicher politischer und gesellschaftlicher Lager. Diese Dialektik spielt sich unter unseren Augen ab. Aus der französischen Revolution hervorgegangen, klingt die Parole von den »Menschenrechten« noch im Kampflied »Die Internationale« nach. Aber jetzt, wo die ökonomischen und sozialen Rechte und das Recht jeder Nation, in Frieden und Gleichheit mit allen anderen zu leben aus dem Katalog der Rechte gestrichen worden sind, jetzt wütet das, was mit Recht der »Imperialismus der Menschenrechte« genannt worden ist. Oder man denke an den »Internationalismus«: Alle kennen die große Geschichte im Hintergrund dieser Kategorie, aber niemand darf übersehen, daß sich heute in den USA diejenigen als internationalists bezeichnen, die, im Namen der Ausweitung der universalen Menschenrechte, das souveräne Recht Washingtons theoretisch untermauern, allen Ecken der Welt seinen Willen aufzuzwingen. Nehmen wir uns schließlich die Idee der »Revolution« vor: Es waren die großen Emanzipationsbewegungen, die sie propagierten; das hat aber Faschisten und Nazis nicht daran gehindert, ihre »Revolution« zu glorifizieren, und heute drücken sich die US-amerikanischen Neokonservativen (z. B. Robert Kagan) ähnlich aus, die unter »Revolution« die Ausfuhr der »Demokratie« und des freien Marktes mit den Bomben verstehen.

Diejenigen, die gerne nach Analogien und Assonanzen suchen, können dieses Spiel natürlich weiterführen. Es ist ein nettes Spiel, das auch lustige Retorsionen mit sich bringen kann: Wenn zum Beispiel eine gewisse Linke ihre Verachtung für die Idee der Nation proklamiert, drückt sie sich verdächtigerweise nicht viel anders aus als Gobineau … Soviel sollte klar sein: Der nationale Nihilismus gewährleistet keineswegs eine revolutionäre Reinheit.

Wo bleibt der Klassenkampf?

Wäre es »antimarxistisch«, die Fahne der Nation zu schwenken? Allen sollte bekannt sein, daß Marx und Engels die nationalen Befreiungsbewegungen des irischen und polnischen Volkes stark unterstützten und mit Wohlwollen den Prozeß der nationalen Einheit in Deutschland und Italien verfolgten. Es gibt eine aufschlußreiche Polemik: Marx stempelt als »kretinartigen Zynismus« die Geringschätzung ab, die Proudhon gegenüber der Bewegung in Polen zum Ausdruck bringt, die sich für den Kampf um die nationale Unabhängigkeit einsetzt (MEW 16, 31). Hinzuzufügen ist, daß bei Lenin, Mao, Ho Chi Minh, Castro die Kategorie Nation eine zentrale Rolle spielt.

Wo bleibt also der Klassenkampf? Einer gewissen Linken gelingt es nicht zu begreifen, daß der Klassenkampf immer eine determinierte und »unreine« Konfiguration annimmt. Schon das Manifest der Kommunistischen Partei erklärt, daß der revolutionäre »Auflösungsprozeß innerhalb der herrschenden Klasse«, vielmehr »innerhalb der ganzen alten Gesellschaft« zum Stellungswechsel von Sektoren der herrschenden Klasse führt, die am Ende für die unterdrückte Klasse Partei nehmen (MEW 4, 471). Wenn Lenin später die Bilanz des bolschewistischen Oktobers aufstellt, hebt er hervor, daß »die Revolution unmöglich ohne eine gesamtnationale (Ausgebeutete wie Ausbeuter erfassende) Krise« sei (LW 31, 71). Verständlicherweise zieht es Wagner vor, statt gegen Lenin gegen mich zu polemisieren und entgegnet mir wie folgt: Was für einen Sinn hat es, von »Nation« in einem Land wie Rußland zu reden, das sich durch eine extreme soziale Polarisierung auszeichnet? Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs bedeutet die allgemeine Mobilmachung und die alltägliche Todeserfahrung (die teilweise auch die Ausbeuter oder zumindest ihre Söhne betrifft) den Anfang der »gesamtnationalen« Krise. Drei Jahre später überstürzt sich die Krise: Auch Gesellschaftsschichten, die dem Bolschewismus vollkommen fernstehen, müssen sich davon überzeugen, daß die bolschewistische die einzige Partei ist, die dem Gemetzel ein Ende bereiten und das Land vor dem totalen Untergang retten kann, der droht, es zu zersplittern und in eine Halbkolonie der Entente zu verwandeln (welche tatsächlich später mit Waffengewalt interveniert, auch um die Fortführung des Krieges zu erzwingen). In diesem Sinne – schreibt Gramsci in der Zeitschrift Ordine Nuovo vom 7. Juni 1919 – erobern die Bolschewiki die Macht, natürlich, weil sie die Sache der Augebeuteten vertreten, aber auch, weil sie »das kollektive Bewußtsein des russischen Volks«, das Bewußtsein der Nation zum Ausdruck bringen.

Aufschlußreich ist das, was in den darauffolgenden Jahrzehnten geschieht. Auf den Versuch des deutschen und des japanischen Imperialismus, ganze Nationen zu versklaven, antworten die Sowjetunion und die KP Chinas mit einem nationalen Verteidigungskrieg. Der Klassenkampf verschwindet nicht: Der Große Vaterländische Krieg in der Sowjetunion und der Widerstandskrieg in China sind die bedeutendsten Momente des Klassenkampfs des 20. Jahrhunderts. Um es mit Mao (5. November 1938) zu sagen, ergibt sich in bestimmten Situationen die »Identität des nationalen Kampfes und des Klassenkampfes«; weder in der Sowjetunion noch in China steht der nationale Widerstand im Widerspruch zum Internationalismus. Die dem deutschen und dem japanischen Imperialismus zugefügte Niederlage gibt der Emanzipationsbewegung der Völker auf Weltebene einen kräftigen Auftrieb. Um es mit Gramsci zu sagen: Konkret und wirksam ist nur ein »Internationalismus«, dem es gelingt, »zutiefst national« zu werden.
Linke Pauschalurteile

Verständlich ist, daß dieser Diskurs in Deutschland auf einen besonderen Widerstand trifft: hier hat der Imperialismus mit dem Nazismus eine besonders barbarische Form angenommen. Wie ist das zu erklären? Ein vortreffliches Motto ­Tocquevilles kommt einem hier in den Sinn: »Wer nur Frankreich gesehen und untersucht hat, wird niemals etwas (…) von der französischen Revolution verstehen« (L'Ancien Régime et la Révolution, 1. Kap., 4). Auch auf die Untersuchung der nazistischen Konterrevolution muß dieses Kriterium angewandt werden, das in Wahrheit für alle großen historischen Krisen gilt. Das »Dritte Reich« hat die Abscheulichkeiten einer langen Tradition des Kolonialismus und Rassismus übernommen und radikalisiert, die jahrhundertelang das Wüten des Westens gegen die »niederen Rassen« zum Protagonisten hatte. Der Nazismus hat sich auf diese Tradition berufen, und wer seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf Deutschland lenkt, wird niemals in der Lage sein, den Horror des Hitlerregimes zu erklären.

Wagner vermeidet es nicht nur, über die Grenzen Deutschlands hinauszublicken, sondern er nimmt, statt eines bestimmten politisch-sozialen Systems, »die Deutschen« als solche ins Visier. Aber wer sind die Deutschen? War die Nation nicht eine Halluzination? Seine eigenen Voraussetzungen schmähend, brandmarkt Wagner »die deutsche Schuld am Nazifaschismus«; die »ganz gewöhnlichen Deutschen« werden als »verantwortliche Täter und Mittäter der faschistischen Verbrechen« abgestempelt. Eine gewisse Linke reanimiert den Begriff »Nation« nur dann, wenn es sich um die pauschale Verurteilung der Deutschen handelt, und sie entdeckt ihn, indem sie ihn als Synonym für eine undifferenzierte Masse interpretiert! Vergessen sind die Deutschen, die ihr Leben zunächst für die Verhinderung der nazistischen Machtergreifung, und später für den Widerstand gegen das »Dritte Reich« geopfert haben; vergessen sind die deutschen Opfer des deutschen Faschismus.

Wagner empört sich über meine Behauptung, daß sogar die Deutschen im Verlauf des unerbittlichen Kampfs um die Weltherrschaft einen Rassisierungsprozeß durchgemacht hätten. Für einen Marxisten sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, daß der Imperialismus zur Rassisierung seiner Feinde übergeht und daß die Rassisierungsprozesse niemanden aussparen. »Mein Kampf« spricht von Frankreich als von einem »Mulattenstaat«. Nach Pearl Harbour ist in den Vereinigten Staaten die Überzeugung verbreitet, daß der »Schädel« der Japaner eine Verspätung von »zirka 2 000 Jahren« aufweise. Auf der Gegenseite hat im Ersten Weltkrieg die Entente die Deutschen insgesamt als »Hunnen« und »Wandalen« abgestempelt. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hat F. D. Roosevelt einen Augenblick lang mit der Versuchung der »Kastration« des »deutschen Volks« geliebäugelt. Sind das nicht auch Rassisierungsprozesse? Wo ist also der Skandal? Eine gewisse Linke proklamiert gern, daß sie sich nicht von Diskursen über phantomartige Nationen ablenken lasse, weil sie sich ausschließlich dem Klassenkampf widme: nur daß diese Linke, wenn es sich darum handelt, den Wahnsinn und den Horror der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu analysieren, nur eine einzige Erklärung findet, und zwar die der besonderen und fortwährenden Niedertracht der deutschen Nation!

Um die Gleichheit der Nationen

Zum Schluß: Kann man sich in der heutigen Welt orientieren, wenn man den Begriff »Nation« ignoriert oder liquidiert? Lang ist die Liste der Völker und der Länder, die einer militärischen Okkupation unterworfen oder direkt von der Aggression seitens des Imperialismus bedroht sind oder die versuchen, die neokoloniale Vormundschaft der Monroe-Doktrin1 abzuschütteln. Außerdem müssen wir an Länder wie China, Vietnam, Kuba erinnern, die große Kämpfe nationaler Befreiung hinter sich haben (die von den jeweiligen kommunistischen Parteien angeführt wurden) und die jetzt darum bemüht sind, die politische Unabhängigkeit mit der ökonomischen Unabhängigkeit zu vervollständigen, wobei sie sich mit der Politik des technologischen Embargos oder des totalen Embargos seitens Washingtons konfrontiert sehen. In allen diesen Fällen sind das nationale Bewußtsein und der nationale Kampf ein wesentliches Element des Emanzipationsprozesses.

Wenn sich in den Vereinigten Staaten die aggressivsten Kreise des Imperialismus internationalists nennen, bezeichnen sie als Nationalisten die Länder, die ihre nationale Souveränität verteidigen wollen. Der nationale Nihilismus begünstigt im Endeffekt dieses Manöver. Die Linke ist hingegen dazu aufgerufen, einen wesentlichen Punkt zu klären: Gibt es einen Unterschied zwischen der Verteidigung der nationalen Unabhängigkeit und einem aggressiven Chauvinismus? Wir haben es mit zwei ganz unterschiedlichen Einstellungen zu tun: Die eine ist universalisierbar, die andere nicht. Die Anerkennung der Würde einer Nation ist perfekt kompatibel mit der Anerkennung der Würde der anderen Nationen. Nicht universalisierbar ist dagegen die von Bush jr. gepflegte Anschauung, wonach die USA die »von Gott auserwählte Nation« seien, die die Aufgabe habe, die Welt anzuführen, eine Anschauung, die nur zu furchtbaren Konflikten führen kann. Heutzutage wird der fanatischste Chauvinismus von den Vereinigten Staaten repräsentiert, und diesem Chauvinismus (oder Imperialismus) muß mit dem Kampf um die Gleichheit der Nationen begegnet werden.


1 nach dem US-Präsidenten James Monroe (1817–1825) benanntes außenpolitisches Konzept der Vereinigten Staaten, demzufolge »Amerika den Amerikanern« gehöre. Der am 2.12.1823 von Monroe formulierte Anspruch sollte die internationale Position der USA stärken und Lateinamerika als künftige Einflußsphäre der USA gegen europäische Hegemonieansprüche schützen – d. Red.


Zitierte Literatur:

Götz Aly, Hitlers Volksstaat, Fischer, Frankfurt a. M. 2005 (pp. 11-29); D. Losurdo, Kampf um die Geschichte, PapyRossa, Köln 2007, Kap. IV, § 4 (für den »Schädel der Japaner« und die »Kastration« der Deutschen); D. Losurdo, Hegel und das deutsche Erbe, Pahl-Rugenstein, Köln 1989, cap. XIV, §§ 22 und 24 (für die Kritik an Gobineau, Spengler und Rosenberg hinsichtlich der Idee der Nation); A. Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts (1930), Hoheneichen, München 1937, S. 673 und 645; L. von Mises, Liberalismus, Fischer, Jena 1927, S. 174; A. Hitler, Mein Kampf, München 1939, S. 730.

Quelle: jungewelt.de

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