Der Soziologe Thomas Wagner lebt als freier Publizist in Berlin, schreibt unter anderem für die deutsche sozialistische Tageszeitung jungeWelt, die linke schweizerische Die Wochenzeitung und die deutsche anarchistische Monatszeitung Graswurzelrevolution.
Sollte der Begriff der Nation von links angeeignet werden? Zwischenbilanz einer zunehmend rechtsdrehenden Debatte
Es ist wieder soweit. Schwarz-rot-goldene Wimpel und Flaggen, wohin das Auge blickt. Zwei Jahre nach dem »Sommermärchen« zelebrieren viele Deutsche erneut ein Wir-Gefühl, das keine Klassen mehr zu kennen scheint. Dabei erlebt die große Mehrheit der Lohnabhängigen seit Jahren, wie der von der Arbeiterklasse erkämpfte Sozialstaat rücksichtslos abgebaut und ihre Einkommenssituation zunehmend prekärer wird. Die Angst vor dem sozialen Abstieg geht um. Die Betroffenen sehnen sich nach kollektiver Sicherheit. Immer mehr fragen danach, wer an ihrer Misere schuld ist. Doch manche Antwort ist illusionär. Zum Beispiel die, daß man die sozialen Probleme lösen könne, wenn man die ausländischen Kollegen und Migranten in ihre Heimatländer zurückschicken würde. Viel zu viele stützen sich auf solche fremdenfeindlichen Denkfiguren, wenn sie ihre schwache Position im Konkurrenzkampf um materielle Ressourcen und soziale Anerkennung zu stärken suchen.
Als sogenannte Globalisierungsverlierer bilden sie eine kollektive Mentalität aus, die in der Sozialforschung als »reaktiver Nationalismus« bezeichnet wird (vgl. Thomas Lühr, Reaktiver Nationalismus, Marxistische Blätter 1, 2008, S. 22). Neofaschistische Sozialdemagogen greifen solche Denkmuster und Gemütslagen auf. Der völkische »Antikapitalismus« von NPD und sogenannten Kameradschaften appelliert an ein diffuses nationales Wir-Gefühl. Im projektierten Sozialstaat der »Volksgemeinschaft« sollen, im Grunde ganz kapitalismuskonform, all jene Menschen ausgesondert werden, die den Leistungs- und Homogenitätsanforderungen der »Nation« nicht zu entsprechen scheinen. Während dieser Nationalismus die abhängig Beschäftigten spaltet und dadurch ihre Position im Klassenkampf schwächt, glauben immer mehr Linke, den Begriff der Nation positiv besetzen zu müssen. Ihre Vorschläge teilen ein gravierendes Manko: Sie lassen weitgehend unbestimmt, was sie meinen, wenn Sie die pathetische Rede von der Nation im Munde führen. Diese begriffliche Unschärfe ist ein Einfallstor für Irrationalismus. All jene, die den Begriff der Nation von links zu vereinnahmen suchen, handeln sich nicht nur schwere theoretische Probleme ein. Sie begeben sich darüber hinaus in die Gefahr, die nationalistische Semantik der Rechten fortzuschreiben und damit Wasser auf die Mühlen der Neofaschisten zu gießen. Es scheint daher geboten, sich mit linken Autoren zu befassen, die ganz unbefangen im nationalen Mythenwald spazierengehen.
Diffuser Begriff
Der Begriff der Nation suggeriert eine Homogenität der Bevölkerung, die in Klassengesellschaften nicht existiert. Unterdrückte und Unterdrückende haben ganz verschiedene Interessen. Die Stuttgarter Einzelhandelsverkäuferin hat mit ihrer Kollegin aus dem spanischen Murcia mehr gemein als mit irgendeinem Spitzenmanager ihres eigenen Landes. Wer sich zudem einmal klarmacht, wie sehr der Begriff der Nation bis heute inhaltlich diffus geblieben ist, müßte sich angesichts dessen gegenwärtiger Renaissance in den linken Debatten eigentlich verwundert die Augen reiben. Haben sich nicht gerade die marxistisch geschulten Linken immer wieder zugute gehalten, den schwammigen und irrationalen Argumenten von Konservativen und Reaktionären mit gut durchdachten Begriffen begegnen zu können? Daß wir es bei der »Nation« nicht mit einem solchen klar konturierten Begriff zu tun haben, wußte schon der bürgerliche Soziologe Max Weber (1864–1920): »›Nation‹ ist ein Begriff, der, wenn überhaupt eindeutig, dann jedenfalls nicht nach empirischen gemeinsamen Qualitäten der ihr Zugerechneten definiert werden kann.« (vgl. Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1980, S. 528). Immer wieder hören wir aus dem Munde prominenter Marxisten, daß weder von Karl Marx (1818–1883), Friedrich Engels (1820–1895), Lenin (1870–1924) noch anderen marxistischen Theoretikern eine »schlüssige Definition für die Nation« (Hofmann, Marxistische Blätter 1, 2008, S. 10) überliefert worden sei. Bei allen sonstigen Unterschieden sind sich Jürgen Hofmann, Eric Hobsbawm und Nicos Poulantzas (1936-1979) über den diffusen Charakter des Begriffs einig. Weder gebe es eine marxistische Theorie der Nation (vgl. Poulantzas, Staatstheorie, Hamburg 2002, S. 123), noch lasse sich überhaupt ein »befriedigendes Kriterium angeben«, um »zu entscheiden, welche der vielen menschlichen Gemeinschaften mit diesem Begriff bezeichnet werden sollen« (Eric J. Hobsbawm, Nationen und Nationalismus, München 1998, S. 15). Weitgehender Konsens war lange Zeit darüber zu erreichen, daß es sich bei Begriffen wie Nation, Volk, Heimat, Rasse oder Vaterland um ein ideologisches Cluster handelt, mit dem gerade in Deutschland reaktionäre Vorurteile transportiert und nach menschlichen Maßstäben unvorstellbare Verbrechen begangen worden sind.
Lange Zeit galt unter Linken als ausgemacht, daß die Menschheit sich erstens nicht naturwüchsig in »Nationen« historisch entwickelt hat, sondern diese vielmehr erst als Resultat ideologischer Bewegungen und moderner staatlicher Herrschaft angesehen werden müssen. »Nationen« sind zweitens keine selbsttätig handelnden Geschichtssubjekte, die über so etwas wie eine stabile und gleichsam natürliche Identität verfügten, sondern umkämpfte symbolische Konzepte, die sich immer dann verändern, wenn sich die Kräfteverhältnisse im Klassenkampf verschieben. Drittens produziert der kapitalistische Staat »nationale Identitäten« und nicht umgekehrt. Er vereinheitlicht die Sprache zu einer nationalen Verkehrsform und standardisiert gesellschaftliche Verhaltensmuster und Institutionen. Die bürgerliche Geschichtsschreibung war es, die Nationen als das hat erscheinen lassen, was sie von sich aus nicht sind: handlungsfähige Wesen mit einem stabilen Identitätskern, der sich im Zeitlauf nicht ändert. Hobsbawm definiert den Nationalismus als »zuviel Glauben an etwas, das offensichtlich in dieser Form nicht existiert« (ebd., S, 24). Kurz nach der sogenannten deutschen Wiedervereinigung zog Jürgen Elsässer daher den Schluß: »Die deutsche Nation ist keine anthropologische Tatsache, sondern eine kollektive Halluzination« (Antisemitismus – das alte Gesicht des neuen Deutschland, Berlin 1992, S. 6).
Abschied von Marx
Seine fatale Wirkung entfaltet das nationale Identifikationsangebot dadurch, daß es die Hoffnungen breiter Bevölkerungsschichten auf eine egalitäre und gerechte Gemeinschaft zumindest im illusionären Modus erfüllt. Denn die Idee der Nation imaginiert auch in krisenhaft erlebten Situationen eine Gemeinschaft, in der sich Herrschende und Beherrschte als vorgeblich Gleiche begegnen können: »Jeder Deutsche ist als Deutscher jedem anderen Deutschen gleich. Mittels und in der Gewißheit, eine nationale Identität zu besitzen, fängt der Bürger die Frustrationen auf, die ihm der kapitalistische Alltag zufügt.« (Elsässer a.a.O., S. 9f.) Statt die Mehrheit der Bevölkerung auf den Kampf für ihre gemeinsamen Klasseninteressen zu orientieren, relativiert die nationale Identifikation die sich unter neoliberalen Vorzeichen verschärfenden Klassenunterschiede und transferiert die realen Konfliktlinien auf eine irrationale Ebene. Nun stehen sich nicht mehr Klassen gegenüber, die handfest um materielle Interessen ringen, sondern Deutsche und sogenannte Fremde. Auf der Grundlage dieser Unterscheidung werden Feindbilder kultiviert, mit deren Hilfe sich die gewaltsame Durchsetzung von Profitinteressen gegenüber der Wahlbevölkerung leichter legitimieren läßt.
Vor diesem Hintergrund ist es sehr zu begrüßen, daß die Marxistischen Blätter (01/2008) zu Anfang dieses Jahres »Die Linke und das Nationale« zum Schwerpunkt hatten. Das Heft enthält eine Reihe von interessanten historischen Darstellungen über den Wandel des linken Verhältnisses zur »Nation«, doch verzichten die meisten Beiträge darauf, den Begriff ideologiekritisch zu prüfen, bevor er als rhetorische Waffe im Kampf gegen die neoliberale Hegemonie in Anschlag gebracht wird. Einige Texte mythisieren den Nationenbegriff sogar mehr, als daß sie Aufklärung betrieben. So schreibt Walter Schmidt den Nationen »eine außerordentliche starke Traditionskraft« (Die deutsche Linke und die Nation, Marxistische Blätter 1, 2008, S. 31) zu, die »bis in die Urgesellschaft zurückreichende Wurzeln« (ebd.) habe. Unversehens wird aus dem historisch entstandenen Begriff auf diese Weise eine vorgeblich universale Vergesellschaftungskategorie. Statt von den tätigen Menschen auszugehen »und aus ihrem wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses« (Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 26) darzustellen, fällt Schmidt hinter grundlegende Erkenntnisse des historischen Materialismus zurück und erklärt die nationalen Ideen zu den entscheidenden Triebkräften der Geschichte. Den Zerfall osteuropäischer Staaten nach der Niederlage des Sozialismus erklärt er daher als Resultat »nationaler Selbständigkeitsbestrebungen« (Die deutsche Linke und die Nation, Marxistische Blätter 1, 2008, S. 32): »Nationales erwies sich als stärker denn soziale Faktoren, ob sozialistisch oder kapitalistisch geprägt.« (ebd.) Wenn Schmidt schließlich auch noch behauptet, es sei »die Lebenskraft des Ethnischen im Nationalen«, die den Nationen eine hohe Stabilität und auch eine historische Perspektive verleihe (ebd.), schreibt er sich in die unheilvolle Geschichte völkisch-nationalistischer Mythenproduktion ein.
Falsche Abstraktion
Dumpfer Abgrenzungswahn: Neonazidemonstration in Berlin (6.12.20
Dumpfer Abgrenzungswahn: Neonazidemonstration in Berlin (6.12.2003)
Foto: AP
Ähnlich bedenklich ist die unter marxistischen Theoretikern und führenden Politikern der Linkspartei grassierende Mode, Nationalstaaten als handelnde Subjekte zu konzipieren, die selbst über legitime Interessen und eine eigene Würde verfügten. Für den italienischen Kommunisten und Hegelforscher Domenico Losurdo etwa sind »die Nationen wie Individuen« (Nationale Frage, Kampf um Hegemonie und der Mythos vom deutschen Sonderweg, MB 1, 2008, S. 35). Die schlimmste unmittelbare Folge des Ersten Weltkriegs für die russische Nation sieht er darin, daß diese ihre »Identität« zu verlieren drohte (vgl. ebd., S. 33). Was Losurdo jedoch unter der Identität einer russischen Nation versteht, die zu diesem Zeitpunkt immerhin noch eine Gesellschaft feudaler Prägung war, in der sich Aristokratie und Bauernbevölkerung antagonistisch gegenüberstanden, bleibt sein Geheimnis. Was sind denn die gemeinsamen Interessen adliger Großgrundbesitzer und geknechteter Bauern, die ihn behaupten lassen, in der Oktoberrevolution habe die vorrangige Aufgabe der revolutionären Partei darin bestanden, »die materiellen und ideellen Bedürfnisse der Nation zu befriedigen« (ebd., S. 34)? Ging es nicht vielmehr darum, den unterdrückten Menschen dabei zu helfen, sich zwecks Befreiung selbst zu organisieren? Losurdo hat in anderen Publikationen gezeigt, daß er ein geistreicher Kritiker des historischen Revisionismus sein kann. Umso bitterer stößt nun auf, daß er sich von der falschen Abstraktion des Nationalen selbst zu einer geschichtsrevisionistischen Lesart der deutschen Geschichte verleiten läßt. Seine Sprache klingt zuweilen so, als ob er sie direkt aus der ideologischen Waffenkammer der Neuen Rechten entnommen hätte. Wenn er etwa von der »Entfesselung des Zweiten Weltkriegs durch Hitler« (ebd., S. 37) oder vom »Hitlerregime und seiner Ideologie« (ebd., S. 38) spricht, benutzt er rhetorische Formeln, die wir auch von jenen kennen, die darum bemüht sind, die deutsche Schuld am Nazifaschismus zu personalisieren. Andere Textstellen zeigen, daß es Losurdo eigentlich besser weiß. Doch die Mitverantwortung der ganz gewöhnlichen Deutschen liegt nicht im Fokus eines Aufsatzes, der vorrangig mit einer angeblichen »Selbstgeißelung« (ebd., S. 46) der Deutschen aufräumen will, die er zudem erschreckend monokausal auf die westalliierte Kriegspropaganda seit dem Ersten Weltkrieg zurückführt. Losurdos Argumentation erinnert dabei auf fatale Weise an eine programmatische Rede, die der CDU-Politiker Alfred Dregger (1920–2002) in der Bundestagsdebatte zur Lage der Nation am 23. Juni 1983 gehalten hat, um die von Helmut Kohl proklamierte geistig-moralische Wende mit nationalistischem Inhalt zu füllen: »Die deutsche Identität insgesamt wurde ins Zwielicht gerückt. Aber mehr noch: Auch die deutsche Geschichte wurde hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt gesehen, inwiefern sie zur nationalsozialistischen Herrschaft führen konnte. Das hatte zur Folge, daß die deutsche Geschichte insgesamt abgewertet wurde. Seitdem gibt es ein Trauma in unserer Selbsteinschätzung (...) Die Wende, die wir politisch erreicht haben und durchsetzen wollen, wird ihre Bewährungsprobe nicht zuletzt darin zu bestehen haben, unsere nationale Identität in der Identität unserer Werte wiederherzustellen (...) Ich lade ein, sich wieder mit dem Wurzelgrund unserer Kultur zu befassen.« (Protokoll der Bundestagsdebatte zur »Lage der Nation« vom 23. Juni 1983, zitiert nach Jürgen Elsässer, a.a.O., S.16) Schärfer noch als der reaktionäre Stahlhelmer Dregger vor 25 Jahren versucht der italienische Kommunist seinen Lesern heute weiszumachen, den Deutschen sei nach den verlorenen Weltkriegen von den Alliierten bloß eingeredet worden, sie hätten sich in besonderem Maße barbarisch, rassistisch und kriegshetzerisch verhalten.
Täter-Opfer-Umkehr
Als Gewährsmann für seine unannehmbare Behauptung, daß es sich in Wirklichkeit nicht bei den Deutschen, sondern den US-Amerikanern um das »Volk der Vernichter schlechthin« (Domenico Losurdo, a.a.O., S. 41f) handele, zitiert Losurdo ausgerechnet den frühen Rassenideologen Arthur de Gobineau (1816–1882). Dieser habe gemeint, im Unterschied zum »angelsächsischen Stamm« seien die »Germanen« als Kolonisatoren Nordamerikas bereit gewesen, »das Land mit den ehemaligen Besitzern zu teilen«. Ihnen hätte der Gedanke ferngelegen, »fremden Völkern den Gebrauch von Likören oder Giftstoffen aufzunötigen«. Einen der wirkungsmächtigsten Vordenker des modernen Rassismus als Kronzeugen dafür zu nennen, daß ausgerechnet die deutsche Geschichte weniger verbrecherisch sei als die der US-Amerikaner sei: das ist genau die Art von Beweisführung, wie sie rechtsextreme Postillen seit Jahr und Tag vorexerzieren. So ist die Umkehrung oder Verschiebung der Täter-Opfer- bzw. Ursache-Wirkung-Perspektive (vgl. Pfahl-Traughber, »›Konservative Revolution‹ und ›Neue Rechte‹«, Opladen 1998, S. 178) seit vielen Jahren ein beliebtes Argumentationsmuster der Neuen Rechten im Umfeld der Wochenzeitung Junge Freiheit. Die Deutschen erscheinen nun nicht mehr als verantwortliche Täter und Mittäter der faschistischen Verbrechen, sondern als Opfer einer alliierten Schuldzuschreibungskampagne, die ihnen ihr angestammtes Recht auf ein sogenanntes nationales Selbstwertgefühl streitig mache. Karlheinz Weißmann, einer der Chefideologen der Jungen Freiheit, klagt darüber, daß niemals zuvor ein Volk so hart für die Untaten gebüßt habe, die in seinem Namen begangen wurden (ebd., S. 178). In die gleiche Kerbe schlägt Losurdo: Seit dem Ersten Weltkrieg seien die Deutschen »selbst Opfer einer Rassisierung.« (Losurdo, a.a.O., S. 37) durch die Entente geworden. Auch die Nationalzeitung weist die Rede von der Einzigartigkeit des nazifaschistischen Massenmords als angebliche »Staatsreligion der Bundesrepublik« zurück, der sächsische NPD-Landtagsabgeordnete Jürgen Gansel polemisiert gegen die »nationale Selbstverachtung«, den »nationalen Selbsthaß« als »Resultat der psychologischen Kriegsführung zuerst der alliierten Umerzieher und dann der Frankfurter Schule gegen das deutsche Volk«. Der Ethnopluralismus der heutigen Neofaschisten kommt ohne Kategorien wie »Herrenvolk« oder »Herrenrasse« aus und fordert, das »schuldkomplex-beladene« deutsche Volk solle »eine selbstbewußte Nation unter selbstbewußten Nationen« werden.« Ein wichtiger Unterschied zwischen Losurdos Nationenbegriff und dem der Neofaschisten darf hier freilich nicht unterschlagen werden. Die innere Verfassung der Nationalstaates zielt bei Losurdo auf die Verwirklichung individueller Freiheitsrechte. Wenn Jürgen Gansel von der Würde der Nationen spricht, setzt er den individuellen Menschen dagegen nach Volk, Gemeinschaft und Kultur an die letzte Stelle.
Resümee
Man dürfe die Idee der Nation nicht den Rechten überlassen, heißt es von seiten einiger Linker immer wieder (vgl. Diether Dehm u. a., ND, 8./9. Dezember 2007, S. 24; David Salomon jW-Thema, 18. Dezember 2007, S. 10/11). Gegen den mittels EU-»Reform«-Vertrag forcierten Umbau Europas zu einer Zone ungehemmter Kapitalherrschaft und militärischer Aufrüstung gelte es, nationalstaatliche Steuerungsmöglichkeiten zurückzugewinnen. So richtig es aber ist, den Sozialabbau mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu stoppen; so wichtig es zudem ist, die ins Grundgesetz eingeschriebenen sozialen Errungenschaften und Bürgerrechte gegen ihre asoziale und demokratiezerstörende Aushöhlung durch die Europäische Union zu verteidigen, die weitere Militarisierung der EU zu verhindern und die kriegerische Hegemonie westlicher Staaten unter der imperialen Führung der USA zurückzudrängen: Wer die neuesten linken Aneignungsversuche des Nationenbegriffs Revue passieren läßt, dem bietet sich ein katastrophales Bild. Gestandene Marxisten gehen bei ihren Versuchen, den Nationenbegriff von links zu besetzen, selbst rechten Geschichtsmythen auf den Leim.
Kaum jemand scheint es für notwendig zu halten, eine marxistische Definition oder Klärung des Begriffs auch nur zu versuchen, bevor damit Politik gemacht wird. Statt dessen haben wir gesehen, wie Grundprinzipien der materialistischen Gesellschaftstheorie zugunsten idealistischer Spekulationen einfach über Bord geworfen werden. Zuweilen wird der Begriff regelrecht enthistorisiert, das heißt: zum universal gültigen Gemeinschaftsprinzip verklärt. An die Stelle rationaler Analysen tritt zunehmend der Appell an gemeinsame Gefühle sowie die Scheinevidenz vermeintlich uralter Überlieferung und überkommener Vorurteile. Manch einer stellt Marx von den Füßen auf den Kopf, um nicht die wirklichen Menschen, sondern die Idee von der Nation als letztlich geschichtsbestimmend, die einzelnen Nationalstaaten als eigentlich handelnde Subjekte der Geschichte zu behaupten.
Angesichts der fatalen Tendenz, daß Argumentationsmuster der Neuen Rechten Einzug in die linke Debatte halten, sind Zweifel angebracht, ob der in Deutschland besonders reaktionär aufgeladene Diffusbegriff der Nation überhaupt von links neu besetzt werden kann. Selbstverständlich muß der neoliberale Angriff auf erkämpfte Mitbestimmungsmöglichkeiten im Rahmen staatlicher Institutionen vehement abgewehrt werden. Doch brauchte es dazu eine Wiederbelebung nationaler Mythen und historisch längst blamierter Irrationalismen? Auf der Tagesordnung steht viel eher eine offensive Auseinandersetzung mit den verbreiteten Formen nationalistischer Ideologie, wie sie Thomas Lühr (a.a.O., S. 25) in einem der wenigen vorwärtsweisenden Beiträge zur Nationaldebatte in den Marxistischen Blättern vorschlägt. Solange die auch in Gewerkschaftskreisen vorherrschende Standort- und Sozialpartnerschaftsideologie den Blick der abhängig Beschäftigten auf die gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse so weit verschleiert, daß sie ihren Feind nicht im Lager des Kapitals, sondern in den eigenen Reihen suchen, müsse die Linke zeigen, daß und inwiefern die »nationalen Fragen« in Wirklichkeit soziale Fragen sind und daß die sogenannten »nationalen Interessen« Klassencharakter haben. Wer dagegen auf »die Nation« als vorrangige Form eines Wir-Gefühls setzt, tut dies auf Kosten der dringend notwendigen Herausbildung eines kämpferischen Klassenbewußtseins der abhängig Beschäftigten. Nur wo sich ein solches herausbildet, kann jedoch eine grundlegende Umwälzung der schlechten Verhältnisse beginnen.
Quelle: jungewelt.de
2 Kommentare:
Sehr Gut, aber auch kompliziert der Text, Danke für den Post...
Der Beitrag von Domenico Losurdo ist übrigens die direkte Antwort auf Thomas Wagners Aufsatz.
Interessant finde ich, dass der deutsche Linke ein Problem hat, überhaupt mit dem Begriff Nation umzugehen, ohne an die Nazis zu denken. Wohingegen der italienische Genosse die Idee von Nation im Sinne der Aufklärung weiterentwickelt.
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