... und schreibt in der jungen Welt über die an der EM teilnehmenden Länder.
Wagen Sie es nicht!
EM-Landeskunde (1): Deutschland
Von Bernadette La Hengst
Wo anfangen, wo aufhören? Was soll ich machen, ich bin hier geboren, doch ich hab mein Herz verloren, an amerikanische Musik, das ist es, was ich lieb, mit all ihrer Dramatik und Pathetik: amerikanische Musik.
Darf ich dasselbe über deutschen Fußball singen? Wäre ja furchtbar, mit all diesen Widersprüchen, und überhaupt das Wort »deutsch« so oft zu singen, daß es schmerzt. Vielleicht wird das Wort ja plötzlich ganz schön und wertfrei, wenn man es nur lang genug wie ein Mantra vor sich hin singt.
Ich soll eine hoffnungslose Romantikerin sein, wurde mir heute gesagt. Eine Pop- und Polit-Romantikerin. Weiß ich nicht. Na ja.
Deutschland. Ein Land kotzt sich aus, in einem großen braunen Brei, mir wird ganz schlecht von dieser Heuchelei, haben Slime gesungen, oder eher nicht gesungen, sondern gebrüllt, so daß einem tatsächlich ganz schlecht wurde, ich wußte nur nie, wessen Heuchelei wirklich gemeint war. Der Begriff ist so weit gefaßt, und man kann ihn jedem vorwerfen. Den Rechten, den Linken, den Unpolitischen, den Spaßpatrioten, Partyautisten, den Kritikern, die natürlich niemals eine positive Gefühlsregung zulassen würden, wenn die deutsche Nationalmannschaft ein Tor schießt.
Oder geht es doch nur um Fußball? Was bewegt die Herzen der Männer und Frauen und Kinder, die sich mit einer Manschschaft so identifizieren, daß sie alles um sich herum vergessen, ihre Wohnung aufgeben, schon morgens im EM-Fieber Jägermeister in sich hinein schütten und einen Monat nur noch von Internationalität faseln? Am Ende der JägerMeisterschaft stehen sie ohne Wohnung, ohne Freundin und mit einem Magendurchbruch da und müssen ins bitterkalte Neukölln ziehen.
Ich war grade in einem 100-Seelen-Dorf in Mecklenburg Vorpommern. Es gibt Menschen, die ziehen tatsächlich dorthin. Stadtflucht gegen Landflucht ist der Trend. Es gibt dort keine Arbeit, aber wir sind ja sowieso keine Materie mehr, sondern flexible deutsche Gastarbeiter im Internet. Man kann dort in ehemaligen Schulen wohnen, einen Wald aus 200 Birken pflanzen und tatsächlich ein utopisches Leben führen. Wie weit ist die Utopie von unserer Realität entfernt? Zwei Stunden mit der Bummelbahn? In der Bahnhofskneipe von Ludwigslust? Auf dem Fußballfeld zwischen zwei Toren?
Oder auf dem See zwischen dem Nürnberger Reichsparteitagsgelände und der nie zu Ende gebauten Kongreßhalle, den ich, auf einem zwei Meter großen Radiergummi überquert habe, um damit bei der WM 2006 die Selektion der Nazis zu thematisieren? Als ich dann auf der Mitte des Weges keine Kraft mehr hatte, beschloß ich an der kleinen Seezunge an Land zu gehen. Die Trainerin des Jugend-Rudervereins, der dort gerade in See stechen wollte, verbot mir jedoch, das Ufer zu betreten und schrie mich an wie eine Furie: »Wagen Sie es nicht, mit Ihrem Radiergummi an Land zu gehen. Hey Sie da, nehmen Sie ihr Radiergummi mit, sonst hole ich sofort die Polizei.«
Mit letzter Kraft, aber mir durchaus der Ironie des Moments bewußt (denn wann im Leben hört man schon so einen absurden Vorwurf?), schleppte ich mich mit dem 30 Kilo schweren rotblauen Gummi an den Straßenrand, wo ich dann schließlich von einem Bus voller mitfühlender bodenständiger Handwerker mitgenommen wurde, die sofort den Ernst der Lage begriffen und vorschlugen, die Frau wegen unterlassener Hilfeleistung zu verklagen.
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