Wie der Mensch den Selbstverwirklichungswettbewerb des Neoliberalismus vermeiden könne, lautete jüngst eine Frage im laut.de-Gespräch.
Eigene Strukturen aufbauen, empfahl daraufhin Ted Gaier: "Ich glaube eigentlich nach wie vor an diese 70er-Jahre-Idee. Sich weitgehend raushalten aus den etablierten Strukturen und vor allem gucken, dass man sein Ding in Kollektiven macht, wo man ein gutes Gefühl hat."
Diese Kollektividee imprägniert die Goldenen Zitronen gegen jede Übernahme von außen - seien es Vertreter überholter "Scheiß Bullen"-Parolen, sei es die schleichende soziokulturelle Inkorporation der Band über die Teilnahme am Kunstbetrieb, wie er auf "Lenin" mehrfach thematisiert worden ist. "Die Entstehung Der Nacht" manifestiert sich erneut als Multitude, als Resultat eines offenen, anti-hierarchischen Beziehungsgeflechts.
Im Sinne von "Empire – die neue Weltordnung", dem "kommunistischen Manifest des 21. Jahrhunderts", agieren die Zitronen mehr denn je als "Singularitäten, die gemeinsam handeln". Was faktisch bedeutet, dass vorliegendes Werk jegliche Konfrontationslinien von Sprache und Sound durch Pluralität umschifft.
Doris Achelwilm von der Linksfraktion Bremen formuliert es im Pressetext so: "Was dem einen sein unaufgestauter Affekt, soll dem anderen ruhig seine Versenkung in perkussive Muster sein." Auf dem Fundament einer außerordentlichen Beobachtungsgabe rückt man stiltechnisch noch mehr als auf "Lenin" vom Wesen einer Gitarrenband ab. Der Punkgedanke Widerspruch manifestiert sich akustisch in einer überraschend technoiden Produktionsweise, die Klavier und Flöten viel Raum spendiert.
Analoge Klangmaschinen emulieren einen digitalen und kalten Minimal-Sound. Für die repetitiven Muster des Krautrock bietet die Hamburger Multitude innerhalb ihres Proto-Technos genauso Platz wie für beinahe esoterisch anmutende Instrumentaltracks ("Der Flötist An Den Toren Der Dämmerung"). Inhaltlich betreten die Goldies in "Zeitschleifen" neuen Boden, indem sie den Kommunikations-Breakdown am Ende einer Partnerschaft beleuchten - derart hautnah ging es bislang nicht zu.
"Positionen" bringt anschließend das identitäre Scheinpotenzial von sozialen Netzwerken wie MySpace auf den Punkt: "Jeder kann ein kleiner König sein im Sinne des Erfinders / Doch bei der Masse an Juwelen bleibt keine Zeit mehr für die Krönung". Konkretem Sezieren gesellschaftlicher Zustände ("Börsen Crashen") stellt das hauptverantwortliche Gespann Ted Gaier/Schorsch Kamerun erneut das Individuum entgegen: "Bloß Weil Ich Friere" entstammt Kameruns bepreistem Hörspiel "Ein Menschenbild, das in seiner Summe null ergibt" und bildet die logische Fortsetzung des drei Jahre alten "Mila". Ebendies beschrieb gleichfalls in Egoperspektive die Entfremdung des Subjekts angesichts unzählbarer sozio-technischer Möglichkeiten.
Das "Lied Der Medienpartner" wiederum setzt den Vorgänger an anderer Stelle fort. Es bringt ein pointiertes Gleichheitszeichen an zwischen Medienmenschen und den prekär zwischen Klo und Pforte Beschäftigten aus dem 2006er "Lied Der Stimmungshochhalter". Dann ist da noch das Stück vom Landeshauptmann: Im Gegensatz zu K.I.Z.s "Straight Outta Kärnten" referiert das offene Kollektiv nicht auf die konkrete Person Jörg Haider, sondern auf das heuchlerische Betrauern seines Todes in weiten Teilen der österreichischen Bevölkerung.
Die Sollbruchstelle zu sämtlichen Vorläufern allerdings entsteht abseits der bewährt schlauen Gesellschafts- und Ideologiekritik: In der zweiten Albumhälfte skizzieren Die Goldenen Zitronen ihre Vorstellung von Weltflucht. Nachdem man Schorsch Kamerun passend dazu letztens bei PeterLichts Bühnenstück "Räume räumen" sichtete, konzipiert die Band jetzt eine Art befreienden Eskapismus à la Tocotronic.
Wo das Coverfoto die Flucht in die Berge abbildet, bildet "Wir Verlassen Die Erde" das lyrische Äquivalent. Nicht aber der Rückzug in den privaten Mikrokosmos allein erscheint ihnen ungeachtet aller Sympathie für den Kommunengedanken als Ausweg. Das zeigt auch das offensive Veto gegen die wertkonservativen Anwandlungen in Mainstream-Popsongs ("Aber Der Silbermond"). Nein, schon die bloße Idee, "Über Den Pass" zu reisen oder utopisch (und ironisch überspitzt) die Menschheit Richtung Weltall zu verlassen, postuliert einen Freiraum, in dem sich bewegt werden kann.
Wohin die Bewegung gehen mag, bleibt offen. Die Veränderung an sich ist Anliegen. Zogen sich die Zitronen in der Vergangenheit stets auf die Reflektion über und das Aufbegehren gegen die Verhältnisse zurück, unternehmen sie nun den ersten Schritt in Richtung Überwindung. Es bleibt zu wünschen, dass der jüngsten Arbeit dieser wichtigsten deutschen Punkband der dazugehörige Diskurs bald nachfolgt.
quelle: laut.de
Fm5: Die Entstehung der Nacht ist eure mittlerweile zehnte Platte (wenn ich richtig mitgezählt habe). Wie würdet ihr die Besonderheiten dieser Platte im Vergleich zu eurer bisherigen Diskographie beschreiben? Wie versucht ihr, eine aufkommende Routine zu durchbrechen – was euch ja wunderbar gelingt, klingt die neue Platte doch äußerst frisch und neu.
Ted Gaier: Die aktuelle Platte ist die erste Platte, die wir im eigenen Studio aufgenommen haben. Das bedeutet vor allem, dass wir ohne Zeitdruck arbeiten konnten und genauer mit Sounds und Arrangements umgehen konnten. Wir wissen mittlerweile einfach wie unser Zeugs klingt und wie man das aufnehmen muss um dieses oder jenes Resultat zu erzeugen. Dazu kommt, dass wir erstmal ohne Vorgaben angefangen haben rum zu jammern. Wir hatten eigentlich keine Vorgaben, dass es in diese oder jene Richtung gehen soll.
Wie kann man sich den Entstehungsprozess eines Goldenen Zitronen-Albums vorstellen? Ihr legt ja viel Wert darauf, dass ihr ein Kollektiv seid, es sozusagen keinen Anführer, Wortführer oder Songwriter gibt – sorgt das für große Konflikte während der Aufnahmen, oder seid ihr euch relativ einig darüber, was gut und richtig klingt?
Mit dieser Kollektiv-Behauptung ist es immer so eine Sache. Natürlich heißt das nicht, dass alle immer und auf die gleiche Art denselben Input bringen. Der eine hat seine Stärken eher im Konzeptionellen, der andere in den musikalischen Details und der nächste im Soundlichen und so weiter. Aber eben wegen dieser Arbeitsweise, die das klassische Songwriting abgeschafft hat, kommen wir dem Ideal, ein Kollektiv zu sein, zusehends näher. Der Prozess hat übrigens schon zu Zeiten der Platte Economy Class um 1996 begonnen und es ist schön zu sehen, dass durch die Erfahrungen, die wir mit dieser offenen Arbeitsweise gemacht haben, immer schneller und ohne viel Gelaber zu Ergebnissen kommen, die ihrerseits auch zunehmend präziser sind.
Einige der Songs auf Die Entstehung der Nacht haben textlich einen sehr aktuellen Bezug zum Weltgeschehen. Die Goldenen Zitronen waren ja schon immer für politische Aussagen und Texte bekannt, wie wichtig ist dieser Aspekt für euch? Könntet ihr ohne diesen Antrieb soviel Energie in die Musik stecken?
Obwohl es uns bei dieser Platte explizit um mehr Raum für die musikalische Sprache ging, ist man natürlich von dem Zeitpunkt an, wo man beginnt über Texte nachzudenken in Themen drin, die gesellschaftlicher Diskurs oder Diskussionen des eigenen Umfeldes sind. Es ist ja auch nach wie vor unser Anspruch diese Sachen abzubilden. An privatistischen Befindlichkeiten mangelt es ja gegenwärtig echt nicht. Aber was vielleicht wichtig zu sagen wäre ist, dass wir diesmal sämtliche Stücke fertig hatten bevor wir überhaupt ans Texten gingen.
Was würdet ihr jungen Menschen raten, welche die Verhältnisse dieser Welt nicht ertragen und etwas ändern möchten? Mir scheint, es herrscht in dieser, meiner Generation der 20-Jährigen eine gewisse Resignation vor; als ob man keine wirkliche Wahl hätte, die starren Systeme Politik und Kapitalismus zu verändern. Ich denke da z.B. an die Zeile „Ich halte brennende Autos für ein starkes Ausdrucksmittel“.
Dieser Text ist zwar von Schorsch - aber tatsächlich: Ich halte brennende Autos wirklich für ein starkes Ausdrucksmittel. Ich bin auch nicht der Meinung, dass derartige Rituale gänzlich unpolitisch sind. An ihnen zeigt sich auf alle Fälle eine gewisse Ohnmacht. Ein Auto anzuzünden ist meistens so was wie eine Ersatzhandlung für ein Unbehagen und zumindest die Formulierung einer Ablehnung des Bestehenden. Und als jemand, der an Symbole glaubt, halte ich die zerhauene Fensterscheibe eines Starbucks-Cafés für den gelungenen Beweis dafür, dass diese shiny Warenwelt zerbrechlich ist und dass alles auch ganz anders sein könnte. Aber natürlich reicht das nicht, wenn man als 20 Jährig(e) das Gefühl hat im falschen Film zu sein muss man eigene Strukturen aufbauen, in denen man Geschlechter/Macht/Beziehungsverhältnisse infrage stellt und versucht für sich selber rauszubekommen was das eigentlich ist: Freiheit. Es ist ja nicht so, dass irgendwer uns zwingt Castingshows anzusehen oder I-Phones zu kaufen.
Diese Resignation könnte man ja auch perfekt mit Musikvideos und Charterfolgen deutscher „Rockpop“-Bands wie z.B. Silbermond verbinden, denen ja auch ein Lied auf eurem neuen Album mehr oder weniger ‚gewidmet’ ist. Könnt ihr ein bisschen darauf eingehen, wie dieses Lied entstand?
Leuten wie uns kann man einfach nicht kommen mit dieser selbstfixierten Innerlichkeit. Sorry, ich dachte, wir wären alle schon mal weiter gewesen.
Viele Jugendliche wenden sich, vielleicht bedingt durch das angesprochene Gefühl der Machtlosigkeit, dem Rechtsextremismus zu. Ihr habt auf der neuen Platte mit „Des Landeshauptmanns letzter Weg“ einen Song über Jörg Haiders Tod verfasst. Wie erklärt ihr euch die Faszination Jörg Haiders, dessen Tod ja sogar für CNN breaking news war?
Ich weiß nicht ob ich das erklären kann. Der Text ist eher eine Beobachtung dieser bizarren Faszination. Verschiedene Textpassagen sind auch wirklich eins zu eins aus der österreichischen Presseberichterstattung zu der Beerdigung. Ich war eben zu dieser Zeit in Österreich und war einfach baff über diesen Kult, der irgendwie eine Mischung aus 19.Jahrhundert-Herrscherkult und Lady Di Klatschspaltentrauer war. Das Comeback des Obrigkeitsstaats im postmodernen Gewand. Ich glaube diese Tendenzen gibt es gegenwärtig überall in Europa, wenngleich auch in ganz verschiedenen Erscheinungsformen. Berlusconis Italien, Russland, die xenophoben Tendenzen z.B. in Holland Belgien oder Dänemark. NPD-Leute mit Palästinertuch und Kapuzenpullis, die die kulturelle und politische Hoheit in Teilen Ostdeutschlands haben usw.
Nicht zuletzt durch dieses Lied wird klar, dass ihr einen Bezug zu Österreich habt. Wie äußert sich dieser? Wie erlebt man Österreich als "linke Punkband aus Hamburg"?
Ehrlich gesagt fällt es mir schwer gerade im deutschsprachigen Raum in Ländergrenzen zu denken. Ich bin seit 25 Jahren sehr regelmäßig in Österreich und habe zu Wien z.B. ein viel vertrauteres Gefühl als sagen wir mal zum Ruhrgebiet.
Und dann fühle ich mich auch nicht als linkes Punkbandmitglied aus Hamburg wenn ich in der Welt rumfahre. Das ist vielleicht auch der Grund warum es mir jetzt nicht schwer gefallen ist diesen Text zu schreiben, zumal meine Wiener Freunde über den Haiderkult ähnlich fassungslos waren wie ich.
In letzter Zeit keimt in Österreichs alternativer Musikszene etwas Hoffnung. Junge, gute Bands tauchen aus dem Nichts auf und werden über die Grenzen Österreichs bekannt. Schorsch Kamerun hat ja im Rahmen der Wiener Festwochen mit Ja, Panik oder Gustav – die beide als exzellente Beispiele dienen – zusammengearbeitet. Was habt ihr für einen Blick auf die österreichische Musikszene?
Es ist nicht so, dass ich so wahnsinnig auf dem Laufenden wäre, aber als ich Ende der 90er in München bei diko b arbeitete hatte ich mit TunakanPulsinger und zu tun und durch Chicks on speed mit Christopher Just. Zu der Zeit waren wir auch mit den Mäusen unterwegs. Toll fand ich auch immer das Megolabel. Und dann ist da natürlich Gustav, deren letzte Platte ich einfach für die beste deutschsprachige Platte seit Jahrhunderten halte.
Wie sehr lasst ihr euch von anderen Musikern inspirieren? Und wie war das in eurer Anfangszeit?
Kann ich nicht so direkt beantworten. Für die jüngeren Zitronen-Platten gilt, dass dort ganz unweigerlich Sachen anklingen, die jeder von uns zu der jeweiligen Zeit hört. Ich denke im aktuellen Fall hört man schon, dass einige von uns moderne Klassik, Minimal Musik und so was gehört haben. Oder, wie in meinem Fall, Kontakt hatten zu Leuten wie Lothar Meid von Ammon Düül oder Jochen Irmler von Faust. Zu anderen Zeiten war es Free Jazz oder Hip Hop oder ganz früher Rockabilly oder was weiß ich, was auf den Platten mitschwingt. Es ist aber schon länger nicht mehr so, dass einer ankommt und sagt „Hey, lass mal einen Ramones-Song machen“.
Wenn ihr zurückblickt, könnt ihr alle Songtexte noch hundertprozentig unterschreiben? Bob Dylan wurde ja oft mit der koketten Aussage zitiert, er hätte die politischen Texte nur verfasst, weil das zu der Zeit gut ankam (damit will ich natürlich nicht andeuten, dass das bei den Goldenen Zitronen ähnlich war), sondern vielmehr darauf hinaus, ob eure alten Texte teilweise eher ein Produkt der damaligen Zeit waren, die für diese Zeit richtig und zu vertreten waren, aber ihr sie mittlerweile so nicht mehr formulieren würdet?
Letzteres. Unsere frühen Songs zum Beispiel sind ohne das Umfeld, in der die damals entstanden sind, eigentlich gar nicht zu verstehen. Die Sache ist, ich weiß eigentlich bei jedem Song wieso wir den gemacht haben, aber natürlich hat das mit mir heute nur insoweit zu tun, dass er Teil meiner Geschichte ist. Ich saß gerade zwei Tage beim mastern älterer Platten von uns, weil die Fuck You und die Punk Rock gerade wieder auf Vinyl rauskommen und war wirklich erstaunt über den Kram den wir damals gemacht haben. Es war, wie in einem alten Tagebuch zu lesen.
Quelle: fm5.at
Die Entstehung der Nacht
Title
01 Zeitschleifen
02 Positionen
03 Börsen Crashen
04 Bloss weil ich friere
05 Die Entstehung der Nacht
06 Des Landeshauptmann's letzter Weg
07 Drop The Stylist
08 Aber der Silbermond
09 Über den Pass
10 Lied der Medienpartner
11 Wir verlassen die Erde
12 Beautiful People
13 Der Flötist an den Toren der Dämmerung
Genre: Alternative
Bitrate: 232 kBit/s (VBR)
Year: 2009
Bather at Deauville by Kees van Dongen
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Cornelis Theodorus Maria "Kees" van Dongen (26 January 1877 – 28 May 1968)
was a Dutch-French painter who was one of the leading Fauves ("Wild men" =
th...
vor 9 Stunden
5 Kommentare:
Besten Dank für diesen Post. Sehr geile Scheibe. Hat jemand das Hörspiel von Schorsch Kamerun? Seit dem WDR Download ist es nicht mehr zu finden.
Genialer Blog übrigens.
Ja, bitte das Hörspiel vom Schorsch! Das muss ich auch unbedingt haben. Hat das wer?
ganz, ganz toller blog! danke für die tollen inspirationen und vor allem auch für die hintergrundinformationen.
und mich interessiert ebenfalls das hörspiel von schorsch.
Das ist ganz einfach gesagt die beste deutsche Scheibe des Jahres.
Hörspiel such ich raus, wird in der Shoutbox gepostet.
Link aus der Shoutbox ist leider schon down. Ist mir fast peinlich zu fragen aber gibt's ne Chance auf nen re-up?
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